Zeichnung #23 aus dem Theseus-Archiv, entstanden im Rahmen der Workshops für die Faculty mit Mitgliedern des Chors der documenta 14 in Kassel und Athen

Zeichnungen #101 & #8 aus dem Theseus-Archiv, entstanden im Rahmen der Workshops für die Faculty mit Mitgliedern des Chors der documenta 14 in Kassel und Athen

Workshop mit Mitgliedern des Chors der documenta 14 im Fridericianum in Kassel, Blick von oben © Filmstill Anton Kats

Workshop mit Mitgliedern des Chors der documenta 14 im Fridericianum in Kassel, Blick von oben © Filmstill Anton Kats

Zeichnung #85 aus dem Theseus-Archiv, entstanden im Rahmen der Workshops für die Faculty mit Mitgliedern des Chors der documenta 14 in Kassel und Athen

Zeichnung #141 aus dem Theseus-Archiv, entstanden im Rahmen der Workshops für die Faculty mit Mitgliedern des Chors der documenta 14 in Kassel und Athen

Das Theseus-Archiv besteht aus einem sich ständig erweiternden Archiv von Zeichnungen, die Teilnehmer*innen in meinen Workshops im Kontext eines Textfragments aus dem 400 Jhd. v. Chr. entwickeln. Ziel der gemeinsamen Arbeit ist es unter anderem, uns darüber zu verständigen, welche Weisen es gibt etwas zu lernen und zu lehren*. Das geht einher mit der Untersuchung von Formen des Wissens. Was ist „Wissen“, wann weiß ich etwas, wie kann ich das, was ich weiß, weitergeben?

Ich bitte die Teilnehmenden um eine zeichnerische Interpretation von Textzeilen**, die ich mehrfach laut vorlese und gleichzeitig visuell als Projektion an einer Wand zur Verfügung stelle. Es entstehen unterschiedlichste Zeichnungen.

Aber, um was geht es in dem Text? Eine Person, die über sich sagt „nicht bewandert in Buchstaben“ zu sein, beschreibt sechs Formen. Die Zeilen entstammen einem Textfragment der verschollenen Tragödie Theseus des griechischen Dichters Euripides. Euripides legt diese Zeilen einem Protagonisten in den Mund, der des Lesens nicht mächtig ist. Dieser steht am Ufer des Meeres und sieht in der Ferne ein Schiff. Auf dem Schiff entdeckt er Zeichen, die er uns nun beschreibt, ohne dabei selbst zu verstehen, was sie bedeuten.

Erst in einem gemeinsamen Austausch, in der Gesamtschau der entstandenen Zeichnungen kommen wir dem Rätsel etwas näher auf die Spur. Und es erschließt sich nach und nach, dass griechische Buchstaben des Namens „THESEUS“ beschrieben werden. In der Gruppe öffnet sich ein Prozess etwas über Jahrtausende hinweg zu berühren und zu erspüren. Es gibt viele möglichen Interpretationen dieser Erfahrung, die sich in den Zeichnungen abbilden. Lineares Denken sowie der damit einhergehende Wissensbegriff sind künstliche, subjektive und kontextabhängige Konstruktionen, welche die eigene Wahrnehmung und das Lernen und Lehren auch einengen können. Die Buchstaben und das Schreiben sind nicht selbstverständlich, sondern beides muss immer wieder errungen werden.

Dies führt in einem weiteren Schritt zur Erforschung historischer Kontexte der Entwicklung des Alphabets. Westeuropäische Buchstaben des Alphabets basieren auf dem von den Griechen entwickelten Alphabet. Für sie war die Entdeckung und Entwicklung von Zeichen für Laute so zentral, dass sie die Formen der einzelnen Buchstaben bei Aufführungen durch den Chor verkörpern ließen. Im Rahmen meines Workshops führen wir zuvor einige weitere Übungen durch, die eher performativen Charakter haben. Unter andere stehen wir im Kreis und legen einen Ball in das Zentrum.*** Von oben gesehen formen wir damit einen großen Buchstaben, den griechische Buchstaben Thìta: ein Kreis mit einem Punkt in der Mitte. Er bildet den ersten Buchstaben des Theseus Fragments. Wir haben die Form dieses Buchstaben also leiblich bereits durchdrungen, ohne, dass dies unser Bewusstsein erreicht. Dies geschieht erst nach dem gemeinsamen Prozess des Lesens, Hörens und Zeichnens.

Erproben konnte ich das Konzept für das Theseus-Archiv in Zusammenarbeit mit den Chorist*innen der documenta14 in Athen und Kassel, der Faculty und Anton Kats. 160 Mitglieder des Chors – die Chorist*innen – führten Spaziergänge für und mit Besucher*innen der documenta 14 durch. Die Entfaltung des Chors im Zuge der documenta 14 wurde mit der Faculty konzipiert – einer Gruppe von Künstler*innen und Kunstpädagog*innen, die unterschiedliche Methoden und Ansätzen einbrachten. Zu den Mitgliedern der Faculty zählten – neben mir – Keiko Higashi, Gila Kolb, Konstanze Schütze, David Smeulders und Leanne Turvey. Siehe: http://www.documenta14.de/de/public-education/ [Zugriff: 31.03.2018]

*Die Teilnehmenden dieser Workshops kommen aus künstlerisch-mittelnden Berufsfeldern, sind Hochschullehrende, Pädagog*innen und / oder Kunst- und Kulturvermittler*innen sowie Künstler*innen.

** Ich bin nicht bewandert in Buchstaben, aber ich will ihre Gestalt
und ihr deutliches Zeugnis beschreiben:
Ein Kreis wie mit dem Zirkel gezogen,
der in der Mitte einen deutlichen Punkt hat.
Der zweite hat erstens zwei Striche,
die hält in der Mitte ein anderer Strich auseinander.
Der dritte ist wie eine geschwungene Locke.
Der vierte hat wieder einen senkrechten Strich,
an den sich drei schräg anlehnen.
Der fünfte ist nicht leicht zu beschreiben:
zwei Linien beginnen mit einem Abstand,
laufen aber beide zusammen auf einen Grundstrich.
Der letzte ist wie der dritte.
– Euripides, Theseus 1

Aus: Hendrik Folkerts (2017): Keeping Score: Notation, Embodiment, and Liveness

1 Euripides zitiert in Anne Carson, Eros the Bittersweet (London: Dalkey Archive Press, 1998), S. 57–58

***Im Rahmen der Workhops lade ich die Teilnehmenden zu nonverbale Erfahrungen im Raum ein. Dazu bitte ich sie sich in einem Kreis zu positionieren und lege einen Ball in das Zentrum des Kreises. Ich rege an, den Abstand von sich zum Zentrum einzuschätzen und dann die Augen zu schließen, um – durch Schritte, Sprünge, Körperdrehungen, Kriechen, mit Hilfsmitteln Rollen, rückwärts, vorwärts – den Zwischenraum zu überbrücken und den Ball zu berühren – mit einer spontan gewählten Bewegungsart. Zentral ist es, diese Erfahrung ohne den Sehsinn zu vollziehen und dabei die anderen Sinne sowie auch den Raum anders zu erleben. Es gibt keine festgelegte Reihenfolge und wer keine Lust hat, macht nicht mit. Manchmal passiert es, dass mehrere gleichzeitig die Augen schließen und sich „auf den Weg machen“, um den Ball zu berühren, ohne die anderen zu bemerken. Manchmal passiert auch länger gar nichts. Stets gibt es ein stilles Übereinkommen der Gruppe dazu, wann begonnen und wann aufgehört wird.
Ich beobachte, dass diese Form des „stillen Übereinkommens“ sich nonverbal und ohne Blickkontakt zuträgt. Ein Transfer von Wissen („Es beginnt. Es ist zu Ende“) über leibliche und räumliche Erfahrungen vollzieht sich. Gleichzeitig erfahren wir auf einer anderen Ebene etwas, jenseits einer klassischen Vorstellungsrunde: hier ein vielleicht Zögern, dort viel Humor, manchmal Entschlossenheit oder Leichtigkeit, etc. Und, auch individuell können sich neue Erfahrungen vollziehen in Bezug auf die Einschätzung von Raum und der Zurücklegung einer Entfernung ohne Hilfsmittel, ausschließlich durch die leibliche Wahrnehmung.
Diese Wahrnehmungen und Erfahrungen mit sich und der Gruppe werden unterstützt durch die Loslösung von eigenen Bewertungen und Vorannahmen und das Einlassen auf die Erprobung „wahrzunehmen“ sowie Kategorisierungen beiseite zu schieben. Nach verschiedenen weiteren Experimenten, unter anderem z. B. mit der Interpretation von Begriffen in Gesten und Choreografien, komme ich zum Theseus-Archiv.